Die Entdeckung des Lübecker Marzipans - eine schicksalhafte Begegnung der Kulturen
Vor vielen, vielen Jahren, als die Stadt Lübeck noch von hohen Mauern und tiefen Wassergräben umgeben war, lebten dort freundliche Menschen, die sich gut um ihre Stadt kümmerten. Lübeck war eine stolze und reiche Handelsstadt, in der große Schiffe aus aller Welt anlegten, beladen mit wertvollen Waren wie Gewürzen, Stoffen, und natürlich Mandeln und Zucker. Die Lübecker waren besonders stolz auf ihre Bäcker, die das beste Brot weit und breit backten. Doch eines Jahres sollte sich das Leben in der Stadt auf dramatische Weise ändern. Eines Winters war es besonders kalt und stürmisch. Der Schnee fiel so dicht, dass die Felder unter einer dicken weißen Decke verschwanden. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger, und der Frost wollte einfach nicht weichen. Die Bauern der Umgebung konnten nichts ernten, und bald gingen die Vorräte in der Stadt zur Neige. Die Menschen in Lübeck wurden von Tag zu Tag hungriger. Die Bäcker, die sonst immer für frisches Brot sorgten, hatten kein Mehl mehr, und das Holz wurde immer knapper, um ihre Öfen zu befeuern. Die Kinder weinten vor Hunger, und die Erwachsenen hatten kaum noch Kraft, ihre tägliche Arbeit zu verrichten. Damals ernährten sich die meisten Menschen vor allem von Brot, vor allem im Winter. Die Stimmung in der Stadt wurde düster, und viele Menschen hatten Angst, dass der lange Winter sie noch härter treffen würde. Eines Tages rief der Bürgermeister die Bäckermeister der Stadt zusammen. Er sprach mit ernster Miene: „Meine lieben Bäcker, wir müssen einen Weg finden, unsere Stadt zu retten. Die Menschen haben Hunger, und das Mehl ist fast aufgebraucht. Was sollen wir bloß dagegen unternehmen?“ Die Bäckermeister wussten nicht, was sie sagen sollten. Sie hatten alle Vorräte durchsucht, aber es war kaum noch etwas übrig, das sie verwenden konnten. Da erhob sich ein alter Bäcker, der seit vielen Jahren in Lübeck lebte. Er war bekannt für seine Weisheit und seine geschickten Hände. „Lasst uns in die geheimen Vorratskammern der Stadt schauen,“ sagte er. „Vielleicht finden wir dort etwas, das uns helfen kann.“ Die Bäckermeister gingen gemeinsam in die tiefsten Keller der Stadt, dorthin, wo die wertvollsten Vorräte aufbewahrt wurden. Die steinernen Wände waren kalt und feucht, und ihre Schritte hallten in den dunklen Gängen wider. Schließlich kamen sie zu einer schweren Holztür, die mit einem großen Schloss gesichert war. Der Bürgermeister selbst öffnete das Schloss mit einem alten Schlüssel, und die Tür schwang knarrend auf. Zu ihrer Überraschung fanden die Bäckermeister dort große Säcke voll mit Mandeln und Fässer mit Zucker. Diese Vorräte waren für den Handel bestimmt gewesen, doch die Notlage war so groß, dass der Bürgermeister beschloss, sie zu verwenden. „Aber was sollen wir damit machen?“ fragte einer der Bäcker. „Mandeln und Zucker sind kein Brot. Sie werden die Menschen nicht satt machen.“ In ihrer Verzweiflung wandten sich die Lübecker an Gott. Sie versammelten sich in der großen Kirche der Stadt, die hoch auf einem Hügel stand und über Lübeck wachte. Die Glocken läuteten, und die Menschen knieten sich nieder, um zu beten. Sie baten um Hilfe, um ein Wunder, das sie vor dem drohenden Hungertod bewahren würde. „Lieber Gott,“ beteten sie, „bitte schenke uns die Weisheit, einen Weg zu finden, unsere Familien zu ernähren. Wir wissen, dass Du uns nie im Stich lässt. Hilf uns, in dieser schweren Zeit stark zu bleiben.“ Es war ein stilles, aber tiefes Gebet, das von Herzen kam. Die Menschen glaubten fest daran, dass Gott ihre Gebete hören und ihnen helfen würde. Noch am selben Tag, als die Menschen in Lübeck beteten, näherte sich ein fremder Reisender der Stadt. Sein Name war Hassan, und er kam aus einem fernen Land im Orient, aus einer kleinen Karawanserei, welche nach seinem Onkel Yunis benannt wurde - eine Karawanserei ist ein Ort der Gastfreundschaft und Toleranz. Hassan war in seiner Heimat als ein weiser Mann und ein Kaufmann bekannt, der auf seinen Reisen schon viele Wunder erlebt hatte. Er glaubte fest an Gott, den er Allah nannte, und er wusste, dass Menschen verschiedener Glaubensrichtungen in ihrer Not zusammenhalten sollten. Hassan hatte von der Hungersnot in Lübeck gehört, als er durch nahegelegene Dörfer reiste. Er spürte in seinem Herzen, dass es seine Aufgabe war, den Menschen dort zu helfen. Also machte er sich auf den Weg zur Stadt und kam genau zu dem Zeitpunkt an, als die Bäckermeister in den Vorratskammern standen und überlegten, was sie mit den Mandeln und dem Zucker anfangen sollten. „Verzeiht, dass ich mich ungefragt einmische,“ sagte Hassan mit einer tiefen, freundlichen Stimme. „Mein Name ist Hassan, und ich bin ein Kaufmann aus einem fernen Land im Orient. Ich habe von der Hungersnot in Lübeck gehört und kam, um zu sehen, ob ich helfen kann.“ Die Bäckermeister und der Bürgermeister waren erstaunt. Sie hatten noch nie jemanden wie Hassan gesehen, und seine Worte klangen wie Musik in ihren Ohren. „Ihr sagt, ihr könnt uns helfen?“ fragte der Bürgermeister hoffnungsvoll. Hassan nickte. „In meiner Heimat kennen wir eine Speise, die aus Mandeln und Zucker gemacht wird. Sie ist köstlich und nährend, und ich glaube, sie könnte auch hier in Lübeck den Hunger stillen.“ Der Bürgermeister führte Hassan in das Rathaus, wo sie sich an einen großen Tisch setzten. Hassan erzählte dem Bürgermeister von seiner Heimat, einem Land voller Wüsten, Oasen und blühender Städte, wo Menschen aller Glaubensrichtungen friedlich zusammenlebten. Er erklärte, dass er wie die Menschen in Lübeck an einen einzigen Gott glaubte, den er Allah nannte. „Auch wir beten zu Gott,“ sagte der Bürgermeister. „In unserer Not haben wir ihn um Hilfe gebeten. Vielleicht hat Gott dich zu uns geschickt, um uns zu helfen.“ Hassan lächelte. „Ich glaube, dass Gott, egal unter welchem Namen wir ihn anrufen, uns Menschen immer nahe ist. Er hört unsere Gebete und gibt uns die Kraft, einander zu helfen. So wie eure Gebete euch zu den Vorräten geführt haben, hat mein Glaube mich zu euch geführt.“ Der Bürgermeister und die Bäckermeister nickten. Sie spürten, dass Hassan ein guter und weiser Mann war, der ihnen helfen konnte. Bevor sie mit der Arbeit begannen, beschlossen die Lübecker und Hassan, gemeinsam zu beten. Die Menschen in Lübeck gingen in die Kirche, während Hassan sich in einem ruhigen Raum im Rathaus niederkniete, um zu Allah zu beten. Die Worte ihrer Gebete mochten unterschiedlich sein, aber die Gefühle und Bitten waren die gleichen. Beide baten um Hilfe, um Stärke und um ein Wunder, das die Menschen in Lübeck retten würde. „Gott, gib uns die Weisheit, diesen Menschen zu helfen,“ betete Hassan. „Lass uns zusammenkommen, trotz unserer Unterschiede, um das Gute zu tun.“ Nachdem sie gebetet hatten, kehrten Hassan und die Bäckermeister in die Backstube zurück. Hassan erklärte, wie sie die Mandeln und den Zucker zu einer wohlschmeckenden Speise verarbeiten könnten. „Zuerst müssen die Mandeln geschält und fein gemahlen werden,“ begann er. „Dann mischen wir sie mit Zucker und einem Hauch von Rosenwasser, das den Geschmack verfeinert. Die Mischung wird zu einem Teig geknetet, der formbar ist und leicht gebacken werden kann. Wenn wir es richtig machen, wird dieses Gebäck so lecker und sättigend sein, dass es die Menschen in Lübeck retten wird.“ Die Bäckermeister tauschten besorgte Blicke. Sie hatten noch nie von so etwas gehört, aber die Not war groß, und sie hatten keine andere Wahl. „Lasst es uns versuchen,“ sagte der Bürgermeister schließlich. „Hassan, zeigt uns, wie man dieses...dingsbums macht.“ Hassan erklärte dem Bürgermeister mit seinem orientalischen Dialekt, dass es dafür in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Namen gibt. Er wusste, dass es lateinisch “martius panis”, von italienischen Bäckern “Marzapane” und in seiner Heimat “marṭabān” genannt wird. Der Bürgermeister war etwas verwirrt und meinte, “ich verstehe immer nur Marzipan. So werden wir es künftig das Lübecker Marzipan nennen!” Hassan führte die Bäckermeister in eine der großen Backstuben der Stadt. Dort begannen sie, die Mandeln zu schälen und zu mahlen, den Zucker zu wiegen und alles nach Hassans Anweisungen zu vermischen. Bald war der erste Teig fertig, und die Bäcker formten daraus kleine Brote, den die Bäcker in den Ofen schieben wollten. Hassan konnte dies noch verhindern, denn Marzipanbrote werden nicht gebacken, erklärte er. Das freute die Bäcker, denn sie brauchten das wenige Holz für die Menschen der Stadt, denen bitterkalt geworden war. Während sie die Brote für alle Bürger hergestellten, verbreitete sich ein köstlicher Duft in der Stadt. Die Menschen, die draußen in der Kälte standen, schnupperten neugierig und ihre Gesichter erhellten sich. „Was ist das für ein wunderbarer Geruch?“ fragten sie sich. „Ist es möglich, dass die Bäcker doch noch Brot für uns haben?“ Die geformten Marzipanbrote waren goldbraun und dufteten verführerisch nach Gewürzen, die Hassan aus seiner Heimat hinzugegeben hatte. Er schnitt das erste Brot an und reichte dem Bürgermeister ein Stück. Dieser biss vorsichtig hinein und seine Augen weiteten sich vor Freude. „Das ist köstlich!“ rief er aus. „Ich habe noch nie etwas so Leckeres gegessen!“ Die Bäckermeister verteilten das Marzipanbrot an die Menschen in der Stadt, und jeder, der davon aß, spürte, wie die süße Vielfalt ihn erfüllte. Der Hunger verschwand, und bald hörte man überall in der Stadt das fröhliche Lachen von Kindern und das zufriedene Murmeln der Erwachsenen. Die Nachricht von dem Wunder verbreitete sich schnell, und die Menschen begannen Hassan den „Retter von Lübeck“ zu nennen. Doch der geheimnisvolle Fremde wollte keinen Ruhm für sich. „Es ist nicht meine Kunst allein, die euch geholfen hat,“ sagte er. „Es war die Güte eures Herzens und euer Mut, in der Not zusammenzuhalten. Allah will nicht, dass Menschen hungern. Ich habe nur seinen Willen gedient, wie auch ihr Eurem Gott mit dieser großen Tat gedient habt. Gott möchte nicht, dass Menschen irgendwo auf der Welt hungern müssen und wir alle sind seine Diener, seinen Willen umzusetzen. Egal, ob wir ihn Allah oder anders nennen.” Der Bürgermeister, der Hassan sehr ins Herz geschlossen hatte, lud ihn ein, länger in Lübeck zu bleiben. „Wir könnten so viel voneinander lernen,“ sagte er. „Unsere Glaubensrichtungen mögen unterschiedlich sein, aber wir teilen denselben Wunsch, anderen zu helfen und das Gute in der Welt zu vermehren.“ Hassan lächelte und legte seine Hand auf die Schulter des Bürgermeisters. „Ihr habt recht,“ sagte er. „Die Unterschiede in unserem Glauben sollten uns nicht trennen, sondern uns bereichern. Wenn wir die Weisheit und die Lehren unserer Religionen teilen, können wir gemeinsam eine bessere Welt schaffen.“ So verbrachte Hassan noch viele Wochen in Lübeck. Er sprach mit den Menschen über seine Heimat, über den Islam und darüber, wie wichtig es ist, Menschen in Not zu helfen, egal woher sie kommen oder welchem Glauben sie folgen. Die Lübecker lernten viel über die Kultur und den Glauben Hassans, und auch Hassan lernte viel über das Christentum und die Traditionen der Lübecker. Eines Morgens, als die Sonne gerade aufging und die ersten Strahlen über die Dächer der Stadt fielen, verabschiedete sich Hassan von den Lübeckern. Er dankte ihnen für ihre Gastfreundschaft und versprach, in seine Heimat zurückzukehren, um von der Stärke und dem Mut der Lübecker zu erzählen. „Vergesst niemals, was ihr gemeinsam erreicht habt,“ sagte Hassan zum Abschied. „Und bewahrt dieses Rezept gut. Es wird euch und eurem Land in vielen Jahren Freude bringen.“ Die Lübecker waren traurig, ihren Retter ziehen zu sehen, aber sie wussten, dass seine Hilfe nie vergessen werden würde. Der Bürgermeister und die Bäckermeister versprachen, Hassans Rezept mit größter Sorgfalt zu bewahren und es weiterzugeben. So geschah es, dass das Marzipan zu einer der bekanntesten und beliebtesten Spezialitäten Lübecks wurde. Über die Jahre hinweg wurde es verfeinert und perfektioniert, und die Menschen aus aller Welt kamen nach Lübeck, um dieses köstliche Gebäck zu kosten. Manche erzählten, dass Hassan, der geheimnisvolle Fremde, ab und zu in der Stadt gesehen wurde, wie er auf dem Marktplatz stand und mit einem zufriedenen Lächeln die Kinder beobachtete, die glücklich Marzipan naschten. Aber ob das wirklich wahr ist, das weiß niemand so genau. Doch eins ist sicher: Das Marzipan blieb und wird für immer ein Teil der Geschichte von Lübeck sein, eine süße Erinnerung an die Zeiten, in denen die Menschen zusammenkamen, um eine Krise zu überwinden. Und Hassan kehrte einige Jahre später zurück in die Karawanserei des Yunes. Durch die vielen Freundschaften auf seinen Reisen konnte Hassan seinen Heimatort zu einem schnellen Wachstum verhelfen. Von überall auf der Welt wurden nun Handelsbeziehungen mit dem kleinen Ort im heutigen Palästina geknüpft. Der kleine Ort wuchs in den folgenden Jahrzehnten zu einer bedeutenden Handelsstadt heran und wurde fortan Khan Yunes genannt. Und die Geschichte von Hassan und dem Marzipan erinnert uns daran, dass Glauben und Freundschaft alle Grenzen überwinden können – sei es die Grenze zwischen Religionen, Kulturen oder Ländern. (TG/07.08.24)